EINE STUDIE ZEIGT, DASS ELTERN MEHR TUN MÜSSTEN / APP LIEFERT STÄNDIG NEUE GESCHICHTEN
Viele Kinder kommen beim Vorlesen zu kurz
30. Oktober 2019 Autor: Gisela Gross
Eltern dürfen ruhig Bücher zum Vorlesen aussuchen, die sie selbst mögen – denn die Begeisterung der Großen steckt auch die Kleinen an.
© dpa
BERLIN.Eine Kindheit ohne tägliche Einschlafgeschichte – das ist in Deutschland laut einer Studie gar nicht so selten. Knapp ein Drittel der Eltern von Zwei- bis Achtjährigen vernachlässigt demnach das Vorlesen. Wie aus der am Dienstag in Berlin vorgestellten Vorlesestudie 2019 hervorgeht, geben 32 Prozent von insgesamt 700 befragten Müttern und Vätern an, ihrem Kind höchstens einmal pro Woche oder nie vorzulesen.
Hochgerechnet bedeutet das: Etwa 1,7 Millionen Kinder von zwei bis acht Jahren bekämen diesen Impuls nicht oder nur selten durch ihre Eltern, so die Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen, Simone Ehmig. Das habe eingeschränkte Startbedingungen für diese Kinder zur Folge. Die Stiftung führt die Studie seit 2007 mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ und der Deutsche Bahn Stiftung durch. Die Partner stehen auch hinter dem bundesweiten Vorlesetag: Dabei sind die Menschen in diesem Jahr am 15. November aufgerufen, anderen vorzulesen.
Besonders Eltern mit niedriger Bildung lesen der Studie zufolge zu selten vor. Der Bildungsabschluss sei ein Indikator, sagte Ehmig: Lesen oder Vorlesen spiele in diesen Familien keine Rolle, es gebe oft keine Vorlesemedien. Hinzu komme, dass ein beträchtlicher Anteil an Eltern selbst nicht gut lesen und schreiben könne. Berufstätigkeit ist laut der Studie kein Hinderungsgrund, vielmehr läsen berufstätige Mütter sogar häufiger vor als nicht-berufstätige.
„Väter wichtig als Vorbilder“
Obwohl inzwischen mehr Väter zum Beispiel in Elternzeit gehen, macht die Studie klare Unterschiede zwischen Müttern und Vätern aus: Mehr als jeder zweite Vater liest zu selten vor, bei den Müttern gilt das nur für 27 Prozent.
Teils liege das an Familienstrukturen, teils am Rollenverständnis, führte Ehmig aus. Sie appellierte: „Die Väter sind elementar wichtig als Lesevorbilder und Impulsgeber, vor allem für Jungs, die in einer Lesewelt aufwachsen, die nach wie vor eher weiblich dominiert ist.“
Im Vergleich zu früheren Ergebnissen der Vorlesestudie hat sich der Anteil der nicht oder zu wenig vorlesenden Eltern nicht gebessert, sondern minimal verschlechtert (2013: 30 Prozent). Immerhin sei der Anteil nicht noch größer geworden, so Ehmig – schließlich sei die öffentliche Debatte ums Lesen in Zeiten der Digitalisierung eher pessimistisch geprägt. Bisher sehe man anhand anderer Untersuchungen auch keinen Rückgang bei der Zahl der Kinder, die selbst lesen.
Anknüpfungspunkte zur Verbesserung der Werte sehen die Studienmacher darin, dass auch Eltern, die wenig vorlesen, durchaus alltagsnah Sprachanregungen für ihre Kinder gäben. So gaben je knapp 40 Prozent dieser Eltern an, gemeinsam Prospekte oder Kataloge anzuschauen oder anhand von Fotobüchern über Früher zu sprechen. Rund ein Drittel hört auch Hörspiele. Diesen Eltern gelte es zu verdeutlichen, dass Vorlesen nicht so viel anders ist, als das, was sie schon tun.
Die Experten empfehlen, dem Nachwuchs täglich 15 Minuten vorzulesen. Auch Bilder in einem Buch anzuschauen und Geschichten dazu zu erzählen oder sich gemeinsam mit einem Wimmelbuch ohne Text zu beschäftigen zähle dabei zum Vorlesen. Die Tätigkeit sei nicht an das gedruckte Buch gebunden, möglich sei das auch aus Apps oder vom E-Reader, hieß es. Digitale Medien seien demnach nicht zwangsläufig schlecht.
Impulse für Entwicklung
Um das Vorlesen leichter in den Alltag zu integrieren, gibt es etwa eine kostenlose App von Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung: Bei „Einfach vorlesen!“ ist den Angaben zufolge jede Woche eine neue Geschichte für verschiedene Altersgruppen verfügbar.
Kinder profitieren laut Stiftung Lesen in vielerlei Hinsicht, wenn ihnen regelmäßig vorgelesen wird: Unter anderem falle das Lesenlernen leichter. Zudem gebe es wichtige Impulse für die Persönlichkeitsentwicklung und das Einfühlungsvermögen.
© Mannheimer Morgen, Mittwoch, 30.10.2019